"Ohne Deal kein Spiel"

Eine Tagung in Stuttgart mit Thesen zum Thema Doku-Fiction

Von "Goethe" aus der ZDF-Reihe "Giganten" über "Die Juden – Geschichte eines Volkes" (ARD/Arte) und "2030 – Aufstand der Alten" (ZDF) bis hin zum am 27. Mai startenden ARDVierteiler "Steinzeit – Das Experiment": Immer mehr dokufiktionale Formate finden ihren Sendeplatz im Fernsehen. Was Doku-Fiction eigentlich ist, welche fiktionalen Elemente sie hat, welche Quote sie erreicht und welche Folgen dies für den TV-Markt hat, darüber diskutierten rund 200 Filmemacher, Produzenten, Drehbuchautoren, Regisseure sowie Redakteure von öffentlich- rechtlichen wie privaten Sendern Ende vorigen Monats auf einer Tagung beim Südwestrundfunk (SWR) in Stuttgart.

Das Haus des Dokumentarfilms (Stuttgart) hatte das zweitägige Treffen nach einer Idee von "Top-Talente", Verein für Producer und Autoren, organisiert; unterstützt wurde die Tagung von der Filmförderung Baden-Württemberg und der Bavaria Film. Doku-Fictions, Doku-Dramen und Doku-Soaps flimmern schon seit einigen Jahren über den Schirm. Unter diesen Begriffen werden Formate wie Living History oder Scripted Reality genauso subsumiert wie inszenierte Kultur- oder Wissenschaftsgeschichte. Günther Klein ("Giganten: Freud, Goethe, Luther") umriss das Wesen der Doku-Fiction in 10 Thesen unter dem Titel "Alles ist erlaubt! – Die Gesetze der Doku-Fiction".

Dass im Begriff "Doku-Drama" bzw. "Doku- Fiction" ein Versprechen liege, "ein Werbeversprechen, das der Zuschauer allerdings für bare Münze nimmt", so Klein (These 3), hätten aufgeregte Zuschauerbriefe zu seinem "Goethe"- Film bestätigt. Das Publikum habe erwartet, eine reine Dokumentation, sozusagen Goethe von A bis Z präsentiert zu bekommen, es sah aber eine Doku-Fiction, ein emotionales Bild des Meisters in 60 Minuten am Ende seines Lebens. Das Doku-Drama, folgerte Klein, sei in seiner Form beim Zuschauer noch nicht richtig angekommen, auch wenn ein kürzliches Urteil des Oberlandesgerichts Hamburg bestätigt habe: "Doku-Spiele müssen sich nicht dem Maßstab dokumentarischer Wahrheitstreue unterwerfen"; sie dürften "erfinden" und die "Imagination des Zuschauers mit Kunstfiguren" anfüllen.

Den Zuschauer irritiere die Mischung aus Fiktion und Dokument, das Doku-Drama fordere latent den Widerspruch des Zuschauers heraus (These 4), so Günther Klein weiter. Doku-Dramen müssten zugunsten der Dramaturgie auf historische Vollständigkeit verzichten. Sie sollten nicht lexikal sein, sondern "Sinn und Geschmack" für das Thema wecken. Doku-Dramen seien keine Bildungs-, sondern Initialmedien. (These 2) Eine "mediale Alphabetisierung" des Zuschauers werde notwendig, auch deshalb, weil das Missverständnis wachse, Fernsehen sei bloßes Abbildungs- und Informationsmedium (These 9). Bei der Diskussion darüber kam die Frage auf, wie die Glaubwürdigkeit des Doku-Dramas gesichert werden könne. Da Geschichte immer gedachte Geschichte sei, erläuterte Klein, laufe im Kopf des Zuschauers ein anderer Film mit. Der Zuschauer frage sich: Was ist dokumentarisch belegt, was ist hinzugedichtet? Daher könne etwa ein dokumentarisches Verzeichnis in den Filmabspann eingebaut oder eine reine Dokumentation zur Authentisierung nachgeschoben werden.

Eine uralte Methode

Eine definitorische Trennung zwischen Spielfilm und Doku-Drama ist Klein zufolge "nicht wirklich möglich" (These 5). Oder, wie es der Filmemacher Georg Stefan Troller einmal formuliert habe: "Alles ist fiktional, sobald die Kamera läuft." Mittel des Doku-Dramas, fuhr Günther Klein fort, sei das szenische Nachstellen von Geschichte, worin nichts Unzüchtiges liege, sondern Unvermeidliches, wenn man das Medium Film/Fernsehen ernst nehmen wolle (These 6): "Denn wo es keine Bilder gibt, müssen sie geschaffen werden." Zur Vergegenwärtigung geschichtlicher Vorgänge sei das Reenactment eine bereits uralte, historisch bewährte Methode. Verantwortlich gestaltet, könne Reenactment sogar mehr historische "Wahrheit" verbürgen als das vermeintlich authentische Dokument. (These 7). Die emotionale Auffrischung (emotional dressing) jeder filmischen Umsetzung ist laut Klein ein berechtigtes Anliegen. So zu tun, als ob das nicht so sein dürfe, sei kontraproduktiv und schädlich. Die Frage müsse vielmehr sein: "Wie weit darf ich gehen?" (These 8).

In der anschließenden Diskussion unter dem Titel "Fallbeil Quote: Was wollen eigentlich die Zuschauer?" berichtete der Medienforscher Michael Buß (SWR) davon, dass die Zuschauerzahl für Dokumentationen zugenommen habe (im Vergleich der Jahre 2006 und 2005). Ob dies an der Fiktionalisierung liege oder nicht, könne er allerdings nicht sagen. Uwe Kersken (Gruppe 5 Filmproduktion) forderte von den öffentlichrechtlichen Sendern eine Abkehr vom Quotendenken, da rein quantitative Aussagen in den TVRedaktionen zumeist lediglich auf Vermutungen basierten, die wiederum Vermutungen hervorbrächten. Die Öffentlich-Rechtlichen sollten sich stattdessen auf ihre eigentliche Funktion besinnen, ihre jeweilige Farbe zeigen, ihren Bildungsauftrag erfüllen und von der Werbung wegkommen. Bei der Frage, welche Gruppe mit Doku-Fiction eigentlich besonders angesprochen werden sollte, kam unisono die Antwort: die jungen Zuschauer – das sind nun aber speziell gerade jene, die auch die Öffentlich-Rechtlichen gerade mit Blick auf Quotensteigerung immer erreichen wollen.

Und wie ist es um die Zukunft der Doku- Fiction bestellt? Für Günther Klein ist klar, dass dieses Format sicheren Bestand haben wird. Denn es stehe mit dem biblischen Doku-Drama vom Auszug des Mose aus Ägypten "am Anfang unserer literarischen Tradition". Für den Medienpublizisten Fritz Wolf sind dokufiktionale Formate und weiterentwickelte Doku-Dramen durchaus "Leuchtbojen" im Meer des Angebots. Allerdings, so Wolf in diesem Zusammenhang: "Die Redaktion muss sich was trauen, und der Sender muss hinter ihr stehen".

18.5.07 – Anna Kehl/FK