Vortrag von Günther Klein: „Warum ‚Charaktere‘? Welche Aufgabe haben sie?“

im Rahmen des Fortbildungsseminars „Mein Drehbuch lebt II“ vom 23.-27. November 2015 in Baden-Baden

Grundsätzlich: Die Welt existiert nur, insofern sie sich im Menschen abbildet (Schopenhauer: Welt als Wille und Vorstellung). Diese ‚Abbildungen’ sind hochindividuell und daher ungeheuer vielfältig, wenngleich die Geschehnisse objektiv immer die gleichen sind (alles schon in der Bibel erzählt). Nicht die Dinge, aber das Verhalten der Menschen ist immer neu. Entsprechend der Charaktere…

Charaktere erscheinen im Film in drei unterschiedlichen Varianten:

1.     Im Dialog
2.     Im Monolog
3.     Als ‚Erscheinung‘

(…)

Goldene Regeln:

  1. Kein Film, der gut ist, ist ohne Aussage. Film muss sich seiner Aussage ‚hingeben‘.

  2. Habe daher immer eine Aussage/Idee, wenn Du zu schreiben beginnst.

  3. Beziehe diese Idee aus der Betrachtung von Menschen heraus. Spüre aus Deiner sehr persönlichen Beobachtung heraus dem Spezifischen nach (Wenn bspw. Dein großes Thema ‚Macht‘ ist, frage Dich z. B., warum Frau Merkel Bundeskanzlerin ist und nicht Du).
    Übersetze selbst die größte Idee auf menschliches Maß, das Du durch Dich selbst erkennen kannst. Personalisieren heißt, eine Idee im Ganz-Menschlichen zu fassen. Eigentlich geht es nie um Fakten, sondern um Verhalten, also Emotionalität.

  4. Sei nicht von vielen Ideen beflügelt und sei nicht Ideen-besessen, das beschwert Deine Idee, sodass sie irgendwann gar nicht mehr laufen kann. (Anfängerfehler: ‚Das Zuviel‘) Reduziere und fokussiere.

  5. Personalisiere möglichst schnell deine Idee, d.h. gib Deiner Idee möglichst schnell menschliche Gestalt  – und dann lass sie einfach mal laufen.

  6. Daraus folgt: Du hast ein Verhältnis zu Deinen Personen, das kann gut oder schlecht sein, in jedem Fall aber ist es emotional geprägt. Ermögliche nun auch, dass der Zuschauer ein emotionales Verhältnis zu den Personen aufbauen kann.

  7. Bedenke: ALLES im Bild kann ‚Person‘ werden, z.B. auch Schauplatz/Landschaft (Bsp. Lawrence von Arabien: Wüste als ‚Person‘ gezeigt) Behandele dasjenige dann auch so.

  8. Beachte sorgfältig die Veränderung Deiner Person – je nach dem/derjenigen, die/der vor ihr steht/mit ihr interagiert/welche Umgebung wirkt. Menschliches Verhalten verändert sich je nach umgebenden Menschen/Situationen ganz entscheidend.

  9. Immer wieder die Frage: Brauche ich die Person wirklich? Begründe warum! Streiche jede Figur, die keine Funktion/bzw. Entwicklung hat. ‚E=mc2‘ gilt auch beim Drehbuchschreiben: d.h. reduziere! Verwende so wenige Figuren wie möglich.
    Grundsätzlich gilt: Je weniger von allem, umso besser: Gilt auch für Dialoge, Schauplätze, Ausstattung usw.

  10. Sorge auf alle Fälle dafür, dass sich Deine Figur während des Films entwickelt/verändert. Die Entwicklung ist es ja gerade, die uns die Figur überhaupt interessant werden lässt. (Und wenn Dein Plot gerade darin besteht, dass Deine Figur gar kein Entwicklungspotential hat, dann werden sich gerade deswegen die anderen Figuren, die mit ihr zu tun haben, umso mehr verändern).

  11. Verrate Deine Figur niemals – nicht für einen Gag/Effekt, aber noch nicht einmal für einen Plot! Person muss immer wahrhaftig sein (gerade auch in der Komödie: Nicht komisch spielen, sondern charakter-immanent spielen lassen erzeugt Komik) (Bsp. Chaplin Goldrausch Schuhszene). Besonders am Ende der Versuchung widerstehen, die Figur zu verfälschen (Gefahr des gewünschten und daher konstruierten HappyEnds).

  12. Bedenke beim Dialogschreiben: Körpersprache kann ganze Textpassagen ersetzen. (Bsp. Garbo: Flesh and the devil/ Persona 34.40/Schw./ Jean D’arc von Dreyer/Falconetti)

  13.  Lass Deine Figur sich niemals selbst erklären.

  14. Gib Deinen Personen schnell einen Namen, das macht sie (auch für Dich selbst!) anschaulicher und lebendiger.

  15. Erforsche Deine Figuren wie ein Psychotherapeut und Historiker. Kenne vor dem Schreiben ihre Biographie – insbesondere auch jene Lebensstationen, die nicht in Deinem Film vorkommen (Eine schlechte Kindheit etwa würde sich bestimmt auf das Verhalten Deiner erwachsenen Figur auswirken…). Erforsche sogar ihr Unbewusstes – erst danach kannst Du sie selbst für sich sprechen lassen. (Ein guter Indikator für die Kenntnis Deiner Figur ist es, wenn sie plötzlich mal so reagiert, dass es Dich erstaunt…)

  16. Vor dem Schreiben: Nimm Deine Person möglichst häufig mit Dir mit und überlege, wie sie in dieser oder jener Situation/Umgebung reagieren würde. Du lernst sie dann immer besser kennen. (Wie reagiert Pipi Langstrumpf auf die Neueröffnung der stylischen Eckkneipe…?)

  17. Und wenn Du schon in einer möglichst lauten und unruhigen Kneipe bist: Erzähle einem entfernteren Bekannten von Deiner Person und ihrer Entwicklung – dann merkst Du schnell, ob die Figur interessiert oder Dein Zuhörer eher Interesse an der Bardame hat. Außerdem bist Du in dieser lebhaften Situation gezwungen, Deinen Inhalt so gestrafft und prägnant zu erzählen, wie man es sich in einem Pitch-Paper wünschen würde.

  18. Denke über Gesprächsrequisiten nach. Die ermöglichen mehr Aktion – und Film ist Aktion. Aber auch hier gilt: Reduktion! Für gute ‚Ökonomie der Requisiten‘ sorgen – und diese sogar gerne wieder auftauchen lassen, sie markieren und charakterisieren behaltbar Deine Person  (Es ist auch immer hübsch, wenn die Bratpfanne, in der sie ihm immer sein Lieblingsgericht bereitet hat, später auch die Mordwaffe ist…)

  19. Beachte den character-spezifischen Slang Deiner Figur. Sprache ist nur zu 7% Träger jener Information, von der wir glauben, genau dafür sei die Sprache eigentlich gemacht. Aber Sprache ist nicht Mathematik. Hauptsächlich ist Sprache dazu da, um die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe immer wieder zu markieren und zu bestätigen, daher ist der Inhalt gar nicht so wichtig (sagt die Wissenschaft, Watzlawick und Co. …). Die Untertöne der Sprache sind zumeist wichtiger.
    Wie sagt Deine Figur, wenn sie die Angel auswirft?: Ich liebe es zu fischen. Ich fische gern. Fischen ist geil. Es ist für mich immer ein irrer Genuss, wenn da plötzlich was an der Schnur zappelt. Fischen ist meine ganz große Leidenschaft. Angeln is‘ für mich Suuper-Erholung. Ich hasse Fische… -- es gibt unendliche Varianten – soviel wie Charaktere…

  20. Überfordere Deine Szene nicht: Entwicklung im Dialog braucht Zeit. Bedenke immer: Gedanken /Einsichten müssen einsickern. Niemand gibt ohne Grund schnell sein Inneres preis. Niemand ändert sekundenschnell seine Meinung.

  21. Achte aufs Tempo/Timing: Gestalte die Dynamik abwechslungs- und kontrastreich. Vermeide Anschlusspausen, wenn sie nicht besondere Bedeutung haben sollen.

  22. Lies alle Dialogtexte laut! Und kürze Deine Dialoge um die Hälfte ein ;-) (und immer bevor Du sie den Schauspielern gibst!).